Was uns nicht hilft oder gar beleidigt! – Teil 1: Vorwürfe und das beliebte Bagatellisieren

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Vor einigen Tagen habe ich meine Fediverse-Bubble eine Frage gestellt. Kennt ihr Sätze wie „Geh raus in die Sonne, dann wirds wieder!“? Die Frage richtet sich insbesondere an Menschen, mit Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen und Einschränkungen. Und wow.
Ich habe sehr viele Vorschläge bekommen, die ich in mehrere Kategorien eingeordnet habe. Diese Einordnung und auch die Feedbacks auf die Zitate sind übrigens mein persönliches Empfinden. Wie auch jeder Mensch ist auch die Empfindlichkeit eines Menschen sehr vielfältig.

Damit möchte ich sagen, dass einige Zitate für manche Menschen eine Bagatelle sind, aber für andere sind sie sehr gewichtig. Und beim Lesen bitte ich, dieses auch zu berücksichtigen. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt, an dem ich diesen Satz schreibe, noch nicht ob ich auf jedes Zitat einzeln eingehe, oder sie gebündelt kommentiere.
Ich werde übrigens vermutlich auch in meiner gewohnten, bissigen Art schreiben, denn es sind auch Sachen gekommen die mich, und sogar meinen Mann, echt wütend gemacht haben.

Zusätzlich möchte ich euch ein Video von Torsten Sträter empfehlen. Schaut es euch einfach mal an, bevor ihr weiter lest. Es ist sehr unterhaltsam.
So nun sollten wir aber loslegen. Der Blog könnte so schon etwas länger werden. Ach eines noch: Wie auch Torsten Sträter sagt, wissen wir meistens, dass all das Kommende nicht böse gemeint ist. Im Gegenteil. Ich möchte aber aufzeigen, was das mit uns macht.

Als ich diesen Satz, den du gerade liest, schrieb, habe ich beschlossen, den Blog in mehrere Teile aufzuteilen, da es sonst einfach zu viel wird. Für mich zu schreiben, und für euch zu lesen.
Alle Zitate wurden übrigens durch meine Fediverse-Bubble zusammengetragen und nach Abschluss dieser Serie, werde ich mich an „Wie könnt ihr uns helfen?“ machen. Also fangen wir mit Teil eins an:

Vorwürfe und das beliebte Bagatellisieren

„Selbst schuld wenn du nicht …. machst“

Dieser Satz wird, meiner bescheidenen Erfahrung nach, gerne bei Ängsten verwendet. Viele Menschen mit Angststörungen oder Depressionen, die auch Ängste auslösen könnte, trauen sich gewisse Dinge nicht. Sie machen bestimmte Dinge einfach nicht und bereuen es auch oft.
Dann treten meist Partner und Freunde auf den Plan und wissen oft nicht, was sie mit solchen Aussagen tun. Die Schuldgefühle sind oft schon sehr, sehr groß. Und dann kommen solche Sätze, die es nur noch schlimmer machen und auch dafür sorgen können, dass man sich nicht ernst genommen oder sogar ungeliebt fühlt, gerade wenn es vom Partner kommt.

„Lass Dich mal nicht so hängen!“

Wie oft in meinem Leben habe ich das gehört. Für (meist) psychisch gesunde Menschen ist es meist unverständlich, warum man sich hängen lässt. Oft, weil man es nicht anders kann. Depressionen, seien sie episodisch oder permanent, sind unheimlich kräftezehrend. Sie rauben so viel Energie, dass wir nicht anders können als uns hängen zu lassen.
Und vor allem: Wir wissen, dass wir uns hängen lassen und viele von uns kämpfen mit sich selbst, um sich aufzuraffen. Und viele schaffen das auch. Allerdings ist der Preis ziemlich hoch. Sie zehren dabei oft an Energien, die sie nicht mehr haben. Was am Ende dazu führen kann, dass die Betroffenen nicht mal mehr aufstehen wollen, oder gar … schlimmeres tun.

„Geht‘s dir immer noch so schlecht? Geh mal zu nem richtigen Arzt.“

Mir selbst ist diese Aussage noch nicht mitgeteilt worden, aber ich hab sie zu Hauf schon im Internet gelesen. Gerade wenn Menschen, die Psychotherapeuten Konsultieren, und dies erzählen. Ich frage mich immer wieder, warum es Menschen gibt, die solche Therapeuten nicht als richtige Hilfe ansehen?
Therapeuten (und auch Psychologen) sind die Menschen, die sich am meisten mit psychischen Erkrankungen auskennen. Sie bilden sich sehr viel weiter, um Menschen zu helfen, denen es eben nicht gut geht. Sie hören sich Sorgen, Probleme und Ängste der Menschen an, die sie aufsuchen.

Was ist daran „nicht richtig“? Was wäre denn ein richtiger Arzt? Ein Allgemeinmediziner wird nur begrenzt helfen können. Ein Chirurg gar nicht? Wenn ihr meint, jemand sei nicht richtig, warum kommt ihr dann nicht mit Gegenvorschlägen?
Wisst ihr eigentlich, wie schwer es in Deutschland ist, jemanden zu finden, mit entsprechender Expertise, der einem Helfen oder wenigstens professionell zuhören kann? Sehr schwer.

Viele betroffene berichten von jahrelangen Suchen nach einem Therapeuten, der von der Krankenkasse getragen wird oder halbwegs bezahlbar ist. Ihr habt keine Ahnung, wie viele Menschen hilflos zuhause sitzen und sehnsüchtig auf einen Therapieplatz warten.
Sie nehmen jeden Therapeuten, den sie kriegen können. Zumindest für das Erstgespräch. Für Betroffene sind Therapeuten, auch ohne Doktortitel, die richtigen Ärzte und das sollte schleunigst in den Köpfen der Menschen ankommen.

„Stell dich nicht so an.“
„Anderen geht es viel schlechter“
„DU bist immer so Negativ. Sei doch mal Positiv“
„Das ist alles nur Kopfsache“
„Du denkst zu viel nach!“

Hier fasse ich einfach mal ein paar Vorschläge zusammen, da sie, für mich, im Kern irgendwie dasselbe sind. Mein Lieblingssatz in diesen Zitaten ist „Anderen geht es viel schlechter“. So oft habe ich diesen Satz gehört. Gerne mit Vergleichen wie „Denk an die hungernden Kinder in [Hier Armutsreiches Land einfügen]“. Und … ich bin es ehrlich gesagt Leid.
Aus persönlicher Sicht finde ich solche Aussagen inzwischen unerträglich. Ja natürlich. Es gibt immer jemanden, dem es schlechter geht als einem selbst. Und ja: Es ist einfach zu sagen, dass das alles Kopfsache ist, man sich nicht so anstellen soll und und und.

Aber für Betroffene ist es, gerade in schweren Episoden, als würde alles schlechte dieser Welt sich in einem versammeln. Es ist wie eine schwarze Flut, die sich in uns ausbreitet. Und natürlich ist das alles Kopfsache. ES SIND PSYCHISCHE PROBLEME / ERKRANKUNGEN! Die sind im Kopf Mr. oder Mrs. Obvious.
Und ja viele Menschen sind, gerade dann, negativ und ihr könnt mit euren tollen Sätzen nichts daran ändern. Im Gegenteil. Ihr macht es nur schlimmer.

Ich habe es mir jahrelang vorgeworfen, negativ zu sein. Keine Positiviät zu empfinden. Und mir ging es immer schlecht, wenn mir oben genannte Zitate an den Kopf geworfen wurden.
Auch jetzt werfe ich mir vor, dass ich krank bin. Weil ich durch das Wissen über die Krankheiten das Gefühl habe, dass die Menschen die mich gern haben, ein schwereres Leben haben. Oder Schwierigkeiten haben, das nachzuvollziehen.
Und mit dem Wissen kamen auch neue Ängste. Wie z. B. die Angst Menschen (u. A. deswegen) zu verlieren. Vielleicht wär ein wenig Feingefühl angebracht. Gerade wenn man weiß, was für einen Zustand diese Person hat.

„Du sitzt einfach zu viel am Computer!“

Gerade von Eltern sehr oft verwendet. Klar waren vor 30-40 Jahren Computer keine Massenware und Depressionen waren noch nicht so weit erforscht wie heute. Gerade social Anxiety war damals nicht so nen offenes Thema wie heute.
Menschen die mit diesen Problemen gelebt haben, haben es mit sich selbst ausgefochten.
Heute ist das nicht mehr notwendig. Im Gegenteil. Heute gibts das Internet. Wir können Kontakte knüpfen, ohne uns der Angst eines realen Treffens hingeben zu müssen. Denn oft begleiten da einem Gedanken wie „Was denkt die Person über mich?“, „Er/Sie mag mich nicht!“ Und so weiter.

Am Ende ist das Internet, wenn in vielen Lebensbereichen auch Fluch, für Menschen mit Social Anxiety oder tiefen Depressionen, die es verhindern, dass man raus geht, ein unheimlich großer Segen. Ich könnte noch so viel dazu schreiben, aber am Ende würde sich das alles wiederholen.
Aber eins is klar: Man sollte ab und zu das Haus verlassen und es versuchen. Aber jemanden vorzuwerfen, dass er/sie zu viel am Computer sitzt, besonders in dem Wissen, dass die Person vielleicht Probleme mit sozialen Kontakten hat, ist der verkehrte Weg.
Ich wünschte mir, dass man vielleicht mehr hinterfrage, warum eine Person so viel am Computer sitzt. Mich hat man in der Jugend auch oft gezwungen, rauszugehen, obwohl ich nicht wollte, oder eigentlich konnte. Das hat mich wütend gemacht. Es braucht mehr Verständnis für Handlungen. Und vor allem, aufmerksame Eltern, weil es gerade junge Leute betrifft, die solche Sachen hinterfragen oder vielleicht frühzeitig erkennen, dass eine psychische Erkrankung vorliegen könnte.

Wichtig: Auch Kinder können Depressionen und Angststörungen entwickeln. Wenn ihr Infos dazu braucht oder wollt, schaut einfach mal hier (unbezahlte Werbung) vorbei. https://www.achtung-kinderseele.org/

Kommen wir zu den letzten Vorschlägen in dieser Kategorie.

„Ich war auch mal Depressiv, hab mich aber nach 4 Monaten selber wieder da rausgeholt. Also stell dich nicht so an!“
„Dem XY geht‘s auch schlecht.“

DAS macht mich aggressiv. Bei dem ersten Punkt wurde noch hinzugefügt, dass hier Selbstmitleid mit Depressionen oft gleichgesetzt wird. Und ja, das kann ich so unterschreiben. Ich bin solchen Menschen auch begegnet, die sich permanent bemitleidet haben und dann irgendwann eine Wende gemacht haben, um mich dann zu belehren, dass man selbst rauskommt.
Die meisten Depressionen, die mir untergekommen sind, durch Betroffene oder auch durch Selbstaneignen von Informationen, sind chronisch. Sie kommen immer wieder. Oder in meinem Fall die Dysthymie, die permanent ist. Oft gibt es kein dauerhaftes „Rauskommen“.

Schön für dich, wenn du aus deiner Selbstmitleidsorgie selbst rauskommst, und sogar anfängst, und ja das ist mir auch schon mehrfach untergekommen, alles Negative aus deinem Leben zu verbannen. Oft hatte ich dabei den Verdacht, dass man versucht eine eigene, vermutlich unwissentliche, Depression zu überdecken. Und ich bin mir sicher, weil Depressionen einfach Arschlöcher sind, dass sie irgendwann hart knallen und Menschen, die diesen Satz sagen, dabei richtig auf die Fresse fallen. Ich wünsche es keinen. Aber das ist einfach eine Vermutung.

Auch vergleiche mit anderen Menschen, sind alles andere als hilfreich. Natürlich geht es anderen Menschen, auch in unmittelbarer Umgebung, schlecht(er). Jeden Tag geht es Menschen schlecht. Aber was ändert das an der Situation der entsprechenden Betroffenen? Nichts. Gar nichts.
Betroffene wissen das, denn auch wenn ihr es nicht glaubt: Viele Betroffene sind gut vernetzt. Sie tauschen sich aus. Sie wissen, dass viele Menschen da draußen fernab von „gutgehen“ sind. Man braucht uns nicht daran erinnern. Im Gegenteil. Man könnte es einfach hinnehmen, dass es uns, gerade in schweren Episoden, schlecht geht. Es gibt andere Möglichkeiten zu helfen. Doch dazu komme ich dann, wenn wir mit diesem Projekt durch sind.

Wir sind nun bei fast 1700 Worten. Und ich habe hier immer noch einen Haufen an Vorschlägen. Und da ich keinen auslassen möchte, mache ich hier eine Pause. Ich hoffe, dass ihr versteht, worauf dieses Projekt hinaus will. Und dass diese Sachen, seien sie noch so gut gemeint, nicht hilfreich sind.

Damit beende ich den ersten Teil. Wir sehen uns bei Teil zwei – befehlende Ratschläge, wieder.

Gerry

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1 Kommentar zu „Was uns nicht hilft oder gar beleidigt! – Teil 1: Vorwürfe und das beliebte Bagatellisieren“

  1. Sehr gut geschrieben, fasst das Thema perfekt zusammen. Was ich noch hinzufügen möchte:

    Solche Vorwürfe bzw. Sätze können auch aus der eigenen Familie oder Freundeskreis kommen. Gerade dort wo man das meiste Verständnis erhofft, kommt einen die Anschuldigungen entgegnen. Während man selbsternannte online Hobby Psychologen noch leicht ignorieren kann, geht das bei der eigenen Familie nicht. Klassische Anprangerungen:

    „Warum kommst du uns nie Besuchen?“ – Was noch die harmloseste Variante ist, was aber schnell umschwenken kann zu „Du bist seit Monaten nicht vorbei gekommen, ich wusste du konntest uns von Anfang an nicht leiden.“

    Man beachte den Sprung in der Wortwahl. Erstmal muss man auch solche Vorwürfe ernst nehmen, was bleibt einem anderes übrig, da so etwas schnell die Runde macht im Familien- und Freundeskreis. Zeigt aber auch, wie harmlos noch immer Depression eingestuft wird. Diskussionen enden oft mit „Aber irgendwann muss es dir ja mal gut gehen, oder?“. Gerade von den vertrautesten Personen kommen solche Sätze, ohne dass sie sich Gedanken machen, was das auslöst. Ich möchte da auch keine Böswilligkeit unterstellen, man wird ja gemocht, darum soll man ja vorbei kommen. Es ist schlicht und ergreifend, dass sich die meisten Menschen nicht vorstellen können, was für ein Kampf es überhaupt sein kann, vor die Tür zu gehen. Man klopft sich schon selbst auf die Schulter, wenn man den Einkauf geschafft hat, was für andere was ganz normales ist.

    Bevor ich zu weit abschweife, was ist die Lösung? Jetzt wird es leider hart: DIE Lösung gibt es nicht. Punkt. Egal was dir andere online Hobby Psychologen erzählen. Selbst erfahrene Ärzte haben nicht die Patentlösung. Jetzt wird es richtig knifflig: Wenn dir das passiert, kann vermutlich nur eines Helfen im Bezug auf Freunde und Familie: Reden, Reden und Reden. Genau dann, wenn man das nicht möchte, großartig. Sagt ihnen, dass die Sätze euch verletzen. Dass ihr euch freut wenn sie vorbei kommen, man selbst es aber eben nicht schafft. Das erfordert viel Mut, eigentlich will mach doch einfach nur seine Ruhe. Oft macht man sich auch viel zu viele Gedanken, als müsse man ein Referat halten. Dabei brauchen oft Menschen die das nicht kennen nur einen Schupps in die richtige Richtung. Ein Video von YouTube, einen Blogeintrag der das erklärt, viele Möglichkeiten.

    Alles was ich hier geben kann ist ein Ratschlag, der alles andere ist als allgemeingültig und für jeden anwendbar: So schwer es auch ist, versucht es eurer Familie zu erklären. Sucht euch eine Person aus, nehmt sie auf die Seite. Macht euch klar, dass die Erwartungen von der Familie meist nicht so hoch sind, wie eure Eigenen die auf den Schultern lasten. Freunde und Familien sind oft verständnisvoller als man denkt, es ist einfach diese Unwissenheit die im Weg steht. Ja es ist ein sehr großer Schritt, wie sich überwinden in den Supermarkt zu gehen, aber das Gefühl es geschafft zu haben ist unbeschreiblich. Im besten Fall helfen sie euch auch, dann wird nicht mehr auf ein Familientreffen gedrängt, sondern man findet zusammen kleine Erfolge, wie 10 Minuten zusammen Spazieren.

    Natürlich kann man nicht abstreiten, dass es auch immer Menschen gibt, die egal was man macht kein Verständnis haben. Hört da auf euer Bauchgefühl, weil das meist noch besser funktioniert, als der Kopf in solchen Situationen. Danke an alle die das gelesen haben. Ich drücke euch die Pfoten. Wenn ihr eines mitnehmen wollt aus dem langen Text dann diese Sätze:

    „Ja, mir geht es schlecht, nein das ist nicht ungewöhnlich. So geht es vielen mittlerweile, aber schämen sich es zu sagen. Klar mag ich euch, aber mir geht es so scheiße, dass ich trotzdem nicht vor die Tür gehen kann. Ich freue mich wenn ihr für mich da seit, ich kann das aber leider nicht zeigen. Wenn ihr mich auf dem Weg begleitet, würde ich mich ebenfalls freuen, was ich ebenfalls nicht zeigen kann. Aber bitte, nicht drängeln, mein Tempo und wenn es auch oft Rückschritte sind.“

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